T(r)iefsinn - Unsinn - Leichtsinn

Hier waltet, streunt, brütet, tanzt ... der Sinn. Hier treibt er sein Allotria. Hier wird ihm der Garaus gemacht. Die Szenerie, in die du geraten bist, bezieht ihr Licht aus einem Bereich, wo die grossen Geheimnisse des Lebens vor sich hinkichern.

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Lizentiat in Philosophie und Germanistik. - Beruf: Gymnasiallehrer. - Jetzige Tätigkeit: Teilzeitjobs und philosophische Beratung.

Dienstag, September 20, 2005

Rubrik: Existenzphilosophie

Der Findling


Ich beginne mal mit ein bisschen philosophischer Terminologie:

Martin Heidegger spricht vom Dasein oder der Existenz.
Peter Sloterdijk spricht vom Findling.

Das Dasein ist, wie allgemein bekannt, nicht einfach ein Seiendes unter Seienden; es ist nicht bloss vorhanden. Es ist das Seiende, das nach dem Sein fragt, weil [Sehr gewagt, Philotustan!] es ihm in seinem Sein um sein Sein geht. Es ek-sisitiert, ist hinausgehalten ins Nichts, in die Welt geworfen, in der Sorge.

Auch der Findling ist nicht einfach bloss vorhanden; er ist vielmehr das Wesen, das (wie bestellt und nicht abgeholt) sich vorfindet. Es hat ihn ins Flachland verschlagen.

Wie der Findling sticht das Dasein aus der Welt heraus. Es verschmilzt nicht mit ihr, liegt nicht weich eingebettet in der Welt. Es stösst immer mal wieder an die Grenze der Welt, nämlich dort, wo die wohligen Selbstverständlichkeiten jäh aufhören, wenn es auf das Fragwürdige [Vorwärts, und nicht vergessen: die Bindestrichelei!], nämlich auf sich selber, stösst.

Der Koautor eines grossen Readers über die Gnosis und Verfasser der Schrift mit dem magnetisierenden Titel 'Weltfremdheit' hat mit dem Findling ein grossartiges Bild in die Existenzphilosophie eingeführt. Na ja, jedenfalls ist es ein Bild, das mich zu exakter Träumerei einlädt.

Wir Menschen sind Findlinge. Es hat uns in die weite Welt verschlagen. Da finden wir uns nun vor und fragen: Was fang ich mit mir an, was mit all dem Zeug, was mit den andern Menschen? Was hab ich damit zu tun?

Wir versuchen nun, es uns in dieser Fremde heimisch einzurichten. Viele Einrichtungen sind schon da: die Mutter, die Kirche, die Dorfgemeinschaft, die Familie, der Verein. Das alles gibt Geborgenheit, und es beengt. (Sogar die freiste dieser Einrichtungen, die Freundschaft, kann eines Tages beengend werden.) Und so hat die Erkenntnis, dass wir im Grunde allein sind, zwei Auswirkungen: Sie wirft uns aus vertrauten Bahnen, und sie befreit. Und dann stehen wir erneut in offenem Gelände und müssen/können uns die Fragen erneut stellen: Ich, die andern und das ganze Zeug: Was ist damit? Und die Antworten, die wir dann finden, sind stark, weil verwurzelt in einem Wesen, das sich verloren und wiedergefunden hat. -

Die Situation ist voller aufregender Spannung: Wir erleben uns als frei, ob wir es wollen oder nicht. Und wir erleben uns als abhängig von allen möglichen Dingen. Wir sind stark, weil wir Einsamkeit in unwirtlicher Gegend ausgehalten haben. Und wir wünschen uns nichts mehr als den Schutz einer Hütte, wo wir uns voll ergeben können. Wir sind Kälte gewohnt und suchen das warme Feuer. Wir sind abgehärtet und zerbrechlich. Wir sind ungebunden und liebesbedürftig. Gottes Kreaturen, mit seinen Gaben reich beschenkt und schwer beladen, geschaffen am sechsten Tag. Und auch an diesem Tag sah der Herr, dass es gut war. -

"Fein, Philotustan. Aber wie wär's mit etwas mehr Aufbauendem. Der Herr, der mit seinem Werk zufrieden ist, reicht mir nicht ganz. Es gibt doch auch die Liebe ... ". -
OK. Die grossen Steinbrocken, die es in der letzten Eiszeit ins Flachland verschlagen hat, finden sich dort nun vor, schauen sich - ein klein wenig verdattert - um, versuchen sich zurechtzufinden. Und die Liebe, verstanden als teilnehmende Neugier, hilft ihnen dabei. Sie sind unverwechselbare Wesen. Jedes hat seine spezifische Geschichte. Jedes ist allein. Und aus diesem Wissen heraus können sie ganz unspektakuläre, aber unverwechselbare Beziehungen untereinander eingehen. Ja! Die Liebe ist etwas, was dem Findling eine eines Menschen würdige Behausung gibt! -
"Das hast du aber schön gesagt, Philotustan. - Ach übrigens, könntest du das nicht in deine neuste Nichtveröffentlichung aufnehmen?" -
Daran habe ich eigentlich nicht gedacht. Aber vielleicht liesse sich da was via 'Anerkennung des Findlingsstatus' machen. Werde dem mal nachgehen.


[Nachbemerkungen:
1)
Gewiss sieht sich nicht jeder Mensch vor existenzielle Fragen gestellt; aber solche Fragen zu stellen ist doch sehr menschlich. Keiner ist grundsätzlich gegen sie gefeit. Sie können über Nacht in unser Leben hereinbrechen. Eben war die Welt noch in Ordnung, und dann das!
2)
Wäre ich akademisch tätig, müsste ich das, was ich hier anrichte, mit korrekten Zitaten und Literaturangaben garnieren/bereichern/veredeln/(ver)salzen. Sollte ich? -
Kein Mensch muss müssen, und ein Pöstler müsste? -
Lieber stell ich hier mit dem Peter an, was der mit dem Martin angestellt hat: Erneuerung des Vokabulars, Weiterspinnen von Fäden, Abschneiden von Langfädigem; und ein eine Spur leichtfüssigeres Auftreten als das der Denkwurzel aus dem Schwarzwald wird immer wieder gern gesehen.]